Von der Vergangenheit lernen, Missstände erkennen

Die Spitzenorganisationen der Zahnärzte in Deutschland legen 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen ersten von ihnen in Auftrag gegebenen Bericht vor, in dem die Geschichte der Verstrickungen der Zahnärzte mit dem NS-Regime wissenschaftlich aufgearbeitet wird. Das ist uneingeschränkt zu unterstützen.

Gleichzeitig muss die Frage gestellt werden: Warum erst jetzt? Warum war es über Jahrzehnte möglich, einen großen Vorhang des Schweigens über die keineswegs marginale Verstrickung der Zahnärzte mit den Greueltaten der Nationalsozialisten zu legen? Warum wurden die in den 1980er- und 90er-Jahren erschienenen Arbeiten von Guggenbichler, Kirchhoff und Köhn nicht zum Anlass genommen, sich diesem dunklen Thema der zahnmedizinischen Standesgeschichte Jahrzehnte früher zu stellen?

Schon damals war bekannt, dass die Wertvorstellungen der Zahnärzte und Ärzte schon in der Zeit vor 1933 deutlich autoritär und deutsch-national geprägt waren und sich sukzessiv für nationalsozialistische Positionen öffneten. Zwölf Prozent aller Zahnärzte und sieben Prozent der Ärzte wurden schon vor 1933 als Mitglieder der NSDAP geführt. Da es den Nationalsozialisten gelang, den Machtwechsel als einen Aufbruch in eine bessere Zeit zu vermitteln, blickte die Mehrheit der Zahnärzteschaft mit Optimismus und hohen Erwartungen in die Zukunft. Die Hoffnung, dass der seit Jahrzehnten schwelende Konkurrenzkampf zwischen den Zahnärzten und Dentisten autoritär gelöst würde, trug dazu bei, dass sowohl die Zahnärzte als auch die Dentisten besonders unterwürfig und intrigant um die Gunst der neuen Machthaber gerungen haben.

Der skrupellose Umgang mit den jüdischen Berufskollegen konnte sich in seinen Exzessen auf einer schon lange unter den Zahnärzten vorhandenen antisemitischen Grundhaltung entwickeln. Diese Grundhaltung war der Nährboden für die schamlose Entsolidarisierung der großen Mehrheit der Zahnärzte mit den Kollegen, die jüdischer Abstammung waren oder als „politisch missliebig“ galten.

Siebzig Jahre nach den Nürnberger Prozessen ist die Frage nach der persönlichen Schuld einzelner weitgehend obsolet geworden. Heute wissen wir, dass die Zahl der Mitwisser und Mittäter weit über den Kreis derer hinausging, deren Schuld strafrechtlich geahndet werden konnte. Wir wissen überdies, dass die in Nürnberg verurteilten Verbrechen nur die letzte Konsequenz einer menschenverachtenden Gesundheits- und Bevölkerungspolitik darstellten und dass diese Politik auch von großen Teilen der Ärzteund Zahnärzteschaft mitgetragen wurde.

Mit diesem Projekt der Aufarbeitung erfahren wir weitere Details der Verstrickung von Hochschullehrern und Standesvertretern. Und wir erfahren auch, wie schnell sie darum bemüht waren, nach dem Zusammenbruch wieder entlastet zu werden. Mit dem Wissen, bei dem Wiederaufbau des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik gebraucht zu werden, konnten sie der Politik der Re-Education, die für eine demokratische Umerziehung sorgen sollte (soweit sie überhaupt stattfand), relativ sorgenfrei entgegensehen.

Im Übrigen ist die scheinbare Gewissheit, dass die DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik alle Nazis in ihrem Land konsequent verfolgt und verurteilt hat, eine Legende, die zum antifaschistischen Selbstverständnis der DDR passte und bewusst etabliert wurde.

Die sich aus dieser Konstellation nach 1945 ergebenden personellen Kontinuitäten bewirkten, dass nicht nur in den Hochschulen, den Fachgesellschaften, den Verbänden und den neu gegründeten Körperschaften auch eine Kontinuität des Denkens einzog, das bis heute spürbar nachwirkt.

Es ist sehr gut, dass die fachliche Aufarbeitung der Standesgeschichte jetzt von offizieller Seite unterstützt wird. Allerdings ist zu erwarten, dass mit Ausnahme der Personalkontinuitäten die ganze Geschichte nach 1945 auch in den beiden neu entstandenen deutschen Staaten noch lange nicht erzählt sein wird. Sich diesem Kapitel einer weiterreichenden Aufarbeitung beispielhaft zu widmen und selbstkritisch fortzuschreiben, könnte eine herausfordernde, aber wichtige Initiative der Zahnärztekammer Berlin sein.

 

 

Dr. Helmut Dohmeier-de Haan

 

 

 

Der Artikel erschien in der MBZ Januar 2020 auf Seite 33.

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